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Buchcover: "Der Sohn des Friseurs" von Gerbrand Bakker

"Der Sohn des Friseurs" von Gerbrand Bakker

Stand: 24.04.2024, 07:00 Uhr

Gerbrand Bakker schickt einen Sohn auf die Suche nach seinem Vater, den er nie gekannt hat. Die Recherche führt zum Nachdenken darüber, ob es möglich ist, seinem Leben eine ganz neue Richtung zu geben – und zu welchem Preis. Eine Rezension von Holger Heimann.

Gerbrand Bakker: Der Sohn des Friseurs
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke.
Suhrkamp, 2024.
285 Seiten, 25 Euro.

"Der Sohn des Friseurs" von Gerbrand Bakker

Lesestoff – neue Bücher 24.04.2024 04:18 Min. Verfügbar bis 24.04.2025 WDR Online Von Holger Heimann


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Simon mag es gern geruhsam und unaufgeregt. Er betreibt in Amsterdam einen Friseursalon und hat oft das Schild "Geschlossen" an der Tür hängen. Simon ist schwul, Mitte vierzig, seine Kunden sind hauptsächlich Männer. Mit einem Rothaarigen landet er im Bett und ist am Morgen danach selbst verwundert darüber. Erotisch angezogen fühlt er sich vor allem von einem behinderten Jungen, den er im Schwimmbad beaufsichtigt.

Einmal im Monat kommt der Großvater Jan zum Haareschneiden und Rasieren vorbei. Er hat den Salon begründet und aus einer Laune heraus "Chez Jean" genannt. So steht es noch immer auf der Schaufensterscheibe und auch die Inneneinrichtung sieht aus wie früher. Zu den Stammgästen gehört ein Schriftsteller, der in vielerlei Hinsicht Gerbrand Bakker ähnelt:

"Der Schriftsteller mit dem inzwischen grauen Haar kommt schon seit Jahren. Ein paar kleine Ringe im linken Ohr, die Hände im Schoß unter dem Friseurumhang gefaltet, die Schuhe fest auf der Fußstütze. Fast immer teilt er Simon mit, warum er auf dem Stuhl sitzt. Ein Literaturfestival in London. Eine Buchvorstellung in der niederländischen Botschaft in Berlin. Eine Preisverleihung in Spanien. Seine Bücher werden übersetzt, er bekommt im Ausland Literaturpreise, er kann vom Schreiben leben."

Simon hat alle Romane des Schriftstellers, der wie Bakker gern mit dem Zug reist und nie ein Flugzeug betritt, gelesen, darunter auch "Unten ist es kühl" – ein kaum versteckter Hinweis auf Bakkers Bestseller "Oben ist es still". Dass sich Bakker so deutlich selbst in den Roman eingeschrieben hat, mag der Lust am autobiografischen Spiel entspringen. Der Gerbrand Bakker so ähnliche fiktive Schriftsteller hat jedoch eine tragende Funktion. Er will einen Roman über einen Friseur schreiben, seine Besuche im Salon dienen nicht zuletzt der Recherche:

"Es geht darum, dass ich sehe, was du machst, dass ich höre, welche Wörter du gebrauchst. Wörter, die was mit Haareschneiden und Rasieren zu tun haben und die ich nicht kenne."

Der Roman, den Gerbrand Bakker geschrieben hat, scheint dem Roman des fiktiven Schriftstellers zum Verwechseln ähnlich. "Der Sohn des Friseurs" ist jedoch mehr als das Porträt des beschaulichen Alltags eines genügsamen Mannes. Simon ist ohne Vater aufgewachsen. Cornelis, der ebenfalls Friseur war, ist noch vor Simons Geburt bei einer Flugzeugkatastrophe ums Leben gekommen. Offen bleibt, was die Vaterlosigkeit für Simon bedeutet. Wird sein Leben von einem melancholischen Grundton bestimmt, weil es von Anfang an von einem Tod überschattet ist?

Angestoßen durch die Nachfragen des Schriftstellers kreist Simons Nachdenken mehr und mehr um die schmerzliche Leerstelle in seinem Leben. Wer war der Mann, der sich eines Tages klammheimlich aus dem Haus geschlichen hat, um ein Flugzeug zu besteigen, das ihn auf die Kanaren bringt? Ist es Zufall, dass der fast gleichaltrige Praktikant aus dem Friseursalon mit an Bord war?

Simon begibt sich auf Spurensuche. Der dokumentarische Mittelteil des Romans rekonstruiert bis ins Detail den Hergang des Unglücks, bei dem auf Teneriffa 1977 beim Zusammenstoß zweier Flugzeuge 583 Menschen starben. Eine der größten Luftfahrtkatastrophen der Geschichte. Cornelis ist da nicht mehr an Bord, daraus macht der Roman kein Geheimnis. Er hat sich nach dem Zwischenstopp auf Teneriffa dazu entschieden, nicht zum ursprünglichen Ziel Las Palmas weiter zu fliegen. Der dritte Teil des Romans, der womöglich nur der Phantasie des fiktiven Schriftstellers entspringt, folgt dem neuen Leben des Aussteigers, der sich Carlos nennt und auf Teneriffa einen Friseursalon betreibt.

"Carlos war zu einem Mann mit Hund geworden. Niemand wusste, dass er nicht wieder in ein Flugzeug eingestiegen war, in das er hatte einsteigen sollen. Niemand wusste, dass er tot war. Auch er selbst wusste das kaum noch."

"Der Sohn des Friseurs" stellt mit schöner Beiläufigkeit, wie sie für den Stil dieses Autors typisch ist, zwei gegensätzliche Lebenskonzepte nebeneinander. Simon hält am Bekannten fest, Cornelis wagt den Sprung ins unbekannte Neue. Beide Entscheidungen fordern einen Preis. Gerbrand Bakkers klug komponierter Roman, der nicht zuletzt das Schreiben selbst umkreist, lässt die Antwort auf die Frage nach dem gelungenen Leben kunstvoll in der Schwebe.