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Buchcover: "Kälte" von Szczepan Twardoch

"Kälte" von Szczepan Twardoch

Stand: 12.04.2024, 16:00 Uhr

Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch erzählt in seinem neuen Roman den Lebensweg eines ehemaligen Revolutionärs, der im Gulag zum glühenden Renegaten wird. Der Titel: "Kälte". Eine Rezension von Stefan Berkholz.

Szczepan Twardoch: Kälte
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl.
Rowohlt Berlin, 432 Seiten, 26 Euro.

"Kälte" von Szczepan Twardoch

Lesestoff – neue Bücher 17.04.2024 04:57 Min. Verfügbar bis 17.04.2025 WDR Online Von Stefan Berkholz


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Der Ich-Erzähler ist ein Gestrandeter, ein Verfemter, ein ehemaliger Gefolgsmann der russischen Revolution. Konrad Widuch war beim Matrosenaufstand in Kiel dabei, im November 1918. Mit dem Trotzkisten Karl Radek geht er ins bolschewistische Russland, zusammen mit der Revolutionärin Sofie, die Widuch später heiratet.

"Jedenfalls gehörten Sofie und ich zu Radek, schließlich waren wir gemeinsam mit ihm aus Deutschland ins Vaterland des Weltproletariats gekommen, im Februar 1920, sobald er aus Moabit raus war. Radek kümmerte sich dort um uns, wir hatten Arbeit, konnten Pässe kriegen und hätten damals noch ausreisen können, nach Berlin, nach Warschau, überallhin, aber wir glaubten damals noch, wir müssten bleiben (…), erst als Radek dann 1929 vor dem Schweinehund Stalin kroch, womit er eine Zeit lang nicht nur den eigenen Kopf, sondern auch meinen und Sofies rettete, da fiel sie vom Glauben ab."

1937 gehen sie im Großen Terror Stalins unter. Sofie kann mit den Kindern fliehen, doch Widuch landet im Gulag. Er ist nun ein Verfemter, wird zum Gegner des stalinistischen Mordsystems, befindet sich in einer Sackgasse in der Eiseskälte. Die überlieferten Aufzeichnungen von ihm stammen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Widuch ist dem Gulag knapp entkommen und nun im eisigen Niemandsland unterwegs.

"Warum flieht denn ein alter Bolschewik, ein ehemaliges, aber trotzdem Mitglied der Kommunistischen Partei, aus dem Lager, in das die eigene Partei ihn nach Paragraf 58 gesteckt hat? Sollte ein alter Bolschewik nicht unbedingt auf die Partei hören? Hat die Partei nicht immer recht? (...) Aus dem Lager floh ein Mensch. Aber bin ich ein Mensch?"

Widuch ist zum glühenden Renegaten voller Wut und Hass geworden. Im Tagebuch erzählt er seine Biographie, seine Irrfahrt durch die "Kälte", seine Erlebnisse zwischen einem Urvolk, das von Stalin und den Russen noch nichts weiß. Er versucht, sie über den drohenden Feind aufzuklären, zu warnen.

"Ihr wisst nicht, wie Russland kommt, wenn es kommt. Russland, wenn es kommt, kommt groß, obwohl seine Menschen elend, schwach sind, aber es kommt groß und ist nicht imstande, etwas neben sich zu dulden, was nicht Russland ist, deshalb verwandelt es alles in Russland, versteht ihr, in Russland, das heißt in Scheiße. Damit alles genau solche Scheiße wird wie es selbst."

Über weite Strecken wird vom Leben und von Sitten in einem Urvolk der Taiga erzählt, archaisch und roh, mit Götzenbildern und Sklaven, mit Opferritualen und Gesetzen der Gastfreundschaft. Die vorsintflutliche Art, Feuer zu entfachen, wird geschildert, die rituelle Verbrennung von Toten. Die Währung, in der gezahlt wird, ist die Gegenseitigkeit, denn sie haben dort in der Weite der eisigen Landschaft kein Geld. Eine reine, urwüchsige Welt fern der Zivilisation. Und die aufgegriffene Gefährtin von Widuch wirkt ähnlich bedrohlich und fremd, auch sie eine Verfemte auf der Flucht.

"Gut waren ihre Augen auch nicht, Wolfsaugen hatte sie, tierische. Das Tier kennt weder Gut noch Böse, nur den Selbsterhaltungstrieb, den reinen Hunger, reine Begierde, reine Angst; die Emotion, die die Wirklichkeit beim Tier erzwingt, ist frei von moralischen Wertungen oder Dilemmata."

Der Roman fordert dem Leser eine Menge ab, viel Schreckliches wird darin erzählt. Die Geschichten aus dem Tagebuch sind in eine Rahmenhandlung eingebettet, aber es führt zu weit, diese hier auszubreiten.

Ergebnis am Ende: Die Suche nach der sagenumwobenen Region, die Suche nach dem Urvolk in der Taiga erweist sich in der Gegenwart als Fata Morgana. Der Roman liest sich wie eine Flaschenpost aus dem Grauen, aus dem Morden, aus der Kälte, so der Titel des Romans. Fröstelnd schlägt man das Buch am Ende zu.