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Buchcover: "Das Weltgebäude muß errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen" von Angela Krauß

"Das Weltgebäude muß errichtet werden" von Angela Krauß

Stand: 02.05.2024, 07:00 Uhr

Von Räumen und Verwandlungen: Die Leipziger Schriftstellerin Angela Krauß hat ein belebendes Buch geschrieben, das eine erstaunliche Wirkung entfaltet. Eine Rezension von Dirk Hohnsträter.

Angela Krauß: Das Weltgebäude muß errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen
Suhrkamp, 2024.
110 Seiten, 20 Euro.

"Das Weltgebäude muß errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen" von Angela Krauß

Lesestoff – neue Bücher 02.05.2024 04:54 Min. Verfügbar bis 02.05.2025 WDR Online Von Dirk Hohnsträter


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"Diese Hinterzimmer lassen sich jeden Augenblick betreten, manche geraten immer wieder versehentlich hinein und wissen nicht, wo sie hingeraten sind, so wüst sieht es da aus. Ein Durcheinander, altes Mobiliar, abgelegtes Zeug, halbherzige Pläne, ängstlich zerknautschte Kissen, aufgegebene Lebensentwürfe, schnell verworfene Abenteuer, in jeder Ecke ein Gewissensbiß."

Hinterzimmer, Kinderzimmer, Küchen und Keller – im neuen Buch von Angela Krauß ist von vielen Räumen die Rede, von realen ebenso wie von "Loggien der Begegnung" und "Logen poetischer Existenz". Die Leipziger Autorin fügt ihr Schreiben ein in die eher schmale Reihe literarischer Raumbücher, von denen George Perecs "Träume von Räumen" wohl das berühmteste ist. Wie der experimentelle französische Romancier nähert sich auch Krauß dem menschlichen Leben vom Räumlichen her:

"Alle Häuser, in denen ich bisher eine Weile wohnte, ich habe sie als Durchgangsräume betrachtet. Beim Eingang war ich mir eines Ausgangs sicher, der irgendwo in der Zukunft lag; ich wohnte gern und vorübergehend. Das Vorübergehende war das Natürlichste, das Zeichen von Jugend, alles Endgültige ein Kontaktausfall im Lebensstrom, ein Defekt im System."

Wie in vielen ihrer Bücher, geht Krauß auch in diesem ihrer Kindheit im Erzgebirge nach. Wie sehr, fragt sie sich, hat es ihre Wahrnehmung geformt, wie weit reichen die frühen Prägungen in die Gegenwart hinein? Es ist ein Buch über das Leben und die Lebendigkeit, gebaut aus zehn locker verbunden Kapiteln. Gelegentlich kehren Motive wieder, darunter das einer Tänzerin, mit der die Stimme der Erzählerin ins Gespräch gerät:

"Mögen Sie einen Kaffee?, frage ich. Sie sei eigentlich auf der Suche nach der Freiheit, erwidert sie. Das macht nichts, sage ich, wirklich nicht."

So unscheinbar dieses Buch daherkommt, so sehr entfaltet es schon nach wenigen Seiten eine erstaunliche Wirkung. Man merkt: Hier schreibt jemand auf eine Weise über das Leben, die dazu taugt, es zu verwandeln. Krauß spricht von "Sichtwechsel im Vertrauten" und "Daseinsverwandlung": Was eben noch unverrückbar erschien, kommt einem plötzlich seltsam vor, und was einem nie in den Sinn kam, leuchtet unversehens ein.

"Der folgende Tag, er fühlte sich auf Anhieb merkwürdig an. Von nichts grundiert, nichtssagend auf königliche Weise, mit keiner Botschaft beladen als der seiner sinnlichen Gegenwart. Tatsächlich kamen mir Verbindlichkeiten meines üblichen Tagwerks von Stunde zu Stunde mehr abhanden; wie von Ferne erinnerte ich mich an das Gerüst der Rituale, die dem Leben einen unmerklichen und unerschütterlichen Halt verleihen. Dieses Gerüst zerfiel etwa um die Mittagszeit vor meinen Augen, ich leistete keinen Widerstand."

Wollte man die Texte von Angela Krauß charakterisieren, so ließen sie sich am ehesten als poetische Prosaminiaturen bezeichnen. Sie sind formstreng, mit einem ausgeprägten Sinn für Rhythmus komponiert, jedes Wort sitzt. Zugleich zeichnen sie sich durch einen Blick auf die Welt aus, der sich öffnet fürs Unerwartete, Eigensinnige und Anfängliche. Dieses kurze, großzügige Buch wirkt wie eine Kur, nach der man befreit ist vom Eingerasteten, bereit zur nächsten Bewegung – selbst dann, wenn vom Tod die Rede ist:

"Doch ehe mich der Mut verließ und ich das Gleichgewicht verlor, erkannte ich plötzlich sehr weit oben, noch immer ganz senkrecht über mir und ob der Entfernung winzig klein, eine Art Interieur, Wohngegenstände, unbestimmt bekannte Dinge, mir vertraute Möbel, die Einrichtung eines Lebens. Es war das Leben meiner Mutter. Es war dieses Leben hier, mein Leben, unser aller spielzeugkleines Leben, das sie dort zurückgelassen hatte, um in den weißen Raum zu treten."