Live hören
Jetzt läuft: Albin de la Simone - J'aime lire
Buchcover: "Das versteinerte Herz" von Abdulrazak Gurnah

"Das versteinerte Herz" von Abdulrazak Gurnah

Stand: 29.04.2024, 07:00 Uhr

Als 2021 die schwedischen Akademie den Namen des neuen Literaturnobel-preisträgers verkündete, war die Überraschung groß. Von Abdulrazak Gurnah hatten bis dahin nur die wenigsten gehört. Seitdem arbeitet der Penguin-Verlag daran, die Roman Gurnahs auch für den deutschen Markt zu erschliessen. Nun erscheint sein Roman "Gravel Heart" aus dem Jahr 2017 erstmals auf Deutsch. Eine Rezension von Jan Ehlert.

Abdulrazak Gurnah: Das versteinerte Herz
Übersetzt aus dem Englischen von Eva Bonné.
Penguin Verlag, 2024.
368 Seiten, 26 Euro.

"Das versteinerte Herz" von Abdulrazak Gurnah

Lesestoff – neue Bücher 29.04.2024 04:49 Min. Verfügbar bis 29.04.2025 WDR Online Von Jan Ehlert


Download

"Mein Vater wollte mich nicht." Mit diesem starken ersten Satz beginnt Abdulrazak Gurnah seinen Roman und bringt damit das Trauma seines Protagonisten Salim in wenigen Worten auf den Punkt. Salim war sieben Jahre alt, als sein Vater die Familie verließ. Grußlos und grundlos, so schien es ihm.

"Ich schlief im Zimmer meiner Eltern und konnte natürlich sehen, dass mein Vater nicht mehr da war, aber als ich nach ihm fragte, erklärte meine Mutter, er sei bloß für ein paar Tage verreist. Es war die erste von vielen großen Lügen, die meine Mutter mir im Laufe der Jahre auftischen würde, aber ich [...] hatte keinen Grund ihr zu misstrauen. [...] Damals wusste ich noch nicht, wie glatt und hinterlistig Geheimnisse sind, oder dass sie manchmal nur dazu dienen, Angst und Hilflosigkeit zu verschleiern."

Doch bewusst oder unbewusst: Dieses Geheimnis wirft Salim selbst aus der Bahn. Ziel- und antriebslos bewegt er sich fortan durchs Leben. Fühlt sich wertlos, ungeliebt. Lässt andere entscheiden, wohin ihn sein Weg führen soll. Zum Beispiel seinen Onkel Amir, der ihn von Sansibar mit nach England nimmt, damit er dort Betriebswirtschaft studiert. Nicht gerade Salims Herzenswunsch – doch er schweigt. So wie er auch seine Unsicherheiten und Ängste verschweigt. Nur einem zerfledderten Spiralblock vertraut er seine Gedanken an, in Briefen, die er niemals abschicken wird.

"'Liebe Mama, es gibt da einen Gedanken, den ich immer verdrängt habe, nämlich dass du eine Verräterin bist und mich zu Onkel Amir geschickt hast, um mich aus dem Weg zu haben. Dass du keine Verwendung mehr für mich hattest.' – Ich fing den Brief noch einmal von vorn an."

Die Einsamkeit des Lebens zwischen den Welten, zwischen Sansibar und England – das ist das große Thema von Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah. An Salim zeigt sich dieses Dazwischen-Sein besonders gut. Er lernt andere Emigranten aus afrikanischen Staaten kennen, findet Hoffnung in der Literatur, die er zu seinem Beruf machen will. Verliebt sich. Und doch: Seine alte Heimat hat er verloren, in der neuen findet er sich nicht zurecht. Versucht sich anzupassen und merkt, dass er trotzdem ein Fremder bleibt.

"Meine Freiheit besitzt für niemanden außer mich einen Wert, so gesehen besitzt sie gar keinen. Aber nun bin ich innerlich zerrissen und weiß nicht, ob ich bleiben oder in ein Leben zurückkehren soll, das mich aufzehrt und eines Tages womöglich verschrumpeln lässt."

Dem Leben Salims zu folgen, seiner Ziellosigkeit, ist mitunter langatmig. Menschen kommen und gehen, ohne zu Charakteren zu werden. Und doch: Wichtiger ist, was sich zwischen den Zeilen abspielt. Denn am Beispiel Salims umkreist Gurnah so in immer enger werdenden Schleifen die Fragen nach den Auswirkungen des Kolonialismus, die Fragen nach Identität und Herkunft, nach dem Zusammenleben von Engländern und den Bewohnern ihrer ehemaligen Kolonien. Und schlägt auch literarisch einen Bogen, der beide Länder verbindet: Das Geheimnis um Salims Vater hat seinen Schlüssel in einer Komödie von William Shakespeare, aus der auch der Titel dieses Romans entlehnt ist. Shakespeare in Sansibar, könnte man sagen.

Und wie bei einer Shakespeare-Komödie liegt auch in "Das versteinerte Herz" die eigentliche Wahrheit in dem, was nicht ausgesprochen wird. In der Verzweiflung, der Orientierungslosigkeit nicht nur Salims, sondern auch all der Menschen, die ihm auf seinem Lebensweg begegnen. Das macht diesen Roman zu einer hoch elegant komponierten Geschichte, in der zunächst unbemerkt, dann immer deutlicher alle meisterhaft gesponnenen Fäden auf die erschütternde Auflösung zulaufen. Eine Geschichte, die einmal mehr beweist, was für ein großartiger Erzähler Abdulrazak Gurnah ist.