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Buchcover: "Die Schlafenden" von Anthony Passeron

"Die Schlafenden" von Anthony Passeron

Stand: 10.05.2024, 07:00 Uhr

Anthony Passeron erzählt die Geschichte seines Onkels Désiré, der Anfang der 1980er Jahre heroinabhängig war und dann an Aids starb. Parallel zu seiner Familiengeschichte schreibt Passeron detailreich und spannend über die mühsame Erforschung des Virus, und den Kampf gegen Verharmlosung und Gleichgültigkeit. Eine Rezension von Theresa Hübner.

Anthony Passeron: Die Schlafenden
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Marquardt.
Piper, 2024.
256 Seiten, 24 Euro.

"Die Schlafenden" von Anthony Passeron

Lesestoff – neue Bücher 10.05.2024 05:14 Min. Verfügbar bis 10.05.2025 WDR Online Von Theresa Hübner


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Eigentlich erzählt Anthony Passeron in "Die Schlafenden" zwei Geschichten- und beide lassen einen nach der Lektüre lange nicht mehr los. Zum einen ist das Buch, so schreibt der Autor im Vorwort, sein persönlicher Versuch, etwas aus der Vergangenheit seiner Familie zu bewahren, über alle Familienmitglieder immer geschweigen haben. Es ist die Geschichte seines Onkels Désiré an den Passeron sich nur mit Fotos und Super 8 Filmaufnahmen erinnert. Es geht um Désirés kurzes Leben, sein qualvolles Sterben und was es mit der Familie Passeron gemacht hat.

"Désiré war der Lieblingssohn. Dass der Erstgeborene mehr umsorgt wurde als die anderen, davon konnten die meisten Geschwister im Tal ein Lied singen, er genoss einen Sonderstatus, hatte immer die exklusive Aufmerksamkeit. Désiré war der erste in der Familie, der Abitur machte."

Ein kleines, prosperierendes Dorf bei Nizza im Süden Frankreichs. Die Passerons führen die örtliche Metzgerei, die Familie hat es zu einem gewissen Wohlstand und großem Ansehen im Dorf gebracht. Doch plötzlich geschieht Seltsames: auf den Straßen liegen schlafende Jugendliche, ohnmächtig am helllichten Tag, mit verdrehten Augen und Nadeln im Arm.

"Zunächst dachte man, sie hätten einen heftigen Kater, eine Alkoholvergiftung oder zu viel gekifft. Zumindest nichts Schlimmeres als das, was man von ihren älteren Geschwistern kannte. Aber irgendwann war klar, mit Gras oder Alkohol hatte das hier nichts zu tun. Sie waren kaum wach zu kriegen. Die üblichen Ohrfeigen und eimerweise kaltes Wasser reichten nicht mehr aus. Man musste sie zu ihren Eltern tragen, die auf die Diskretion aller Beteiligten hofften. Die Alten verstanden die Welt nicht mehr."

Heroin überschwemmt das Land geradezu, nicht nur in den Städten, sondern auch in der Provinz. Auch Désiré wird abhängig. Seine Mutter Louise leugnet die Sucht lange, aus Scham, aus Angst vor Ausgerenzung – und auch als die Familie erfährt, dass Désiré sich mit einem noch völlig unerforschten Virus angesteckt hat, will sie das lange nicht wahrhaben.

"Der Infektiologe erklärte ihr, dass sie das Virus zwar im Blut ihres Sohnes nachgewiesen hätten, jedoch nicht sagen könnten, ob er tatsächlich AIDS habe. Erst wenn das Virus anfing, das Immunsystem anzugreifen, spreche man von AIDS: Als meine Großmutter fragte, wie lange dieser Prozess dauere, antwortete der Arzt ausweichend. Ein paar Monate, ein paar Jahre, vielleicht käme es auch nie zum Ausbruch. Man wisse es einfach nicht."

Ein zweiter Erzählstrang des Buches ist der medizinische, parallel erzählt zu Désirés Schicksal. Die intime Familiengeschichte wechselt sich ab mit detailreichen, hervorragend recherchierten Passagen, in denen Passeron die klinische Erforschung durch französische und amerikanische Mediziner des Virus nachzeichnet.

Es gab kluge Ärzte, die früh Alarm schlugen, aber nicht gehört wurden, denn für den vermeintlichen "Schwulenkrebs, oder die Junkieseuche" interessierte sich lange keiner. Es geht auch immer wieder um Scham und um Einsamkeit – Familien, wie die von Anthony Passeron wurden allein gelassen und standen dem Sterben ihrer Liebsten hilflos gegenüber.

"Einmal hatte er überall getrocknetes Blut am Körper. Kein Pfleger hatte es für nötig befunden, ihn nach der Blutung zu säubern. In diesem Moment begann Louise zu begreifen. Sie wusch ihren Sohn selbst, befreite ihn von all dem Blut. Diesem Blut, das dem Krankenhauspersonal so schreckliche Angst einjagte."

Passerons Stil ist schnörkellos und nüchtern, frei von jedem Pathos. Einige Passagen sind schwer zu ertragen, insbesondere, als die kleine Tochter von Désiré schließlich auch an HIV stirbt und Passerons Großmutter Louise nach ihrem Sohn auch noch die Enkelin verliert.

Aber "Die Schlafenden" ist auch tröstend, weil voller Anerkennung und Mitgefühl für die Qualen, die die Familie Passeron, wie so viele andere auch, durchgemacht hat. Ein starkes, ein liebevolles Buch, das Licht auf eine düstere Zeit wirft, die noch gar nicht so lange her ist.